Alkoholforscher rät„Egal, wie viel Sie trinken, reduzieren Sie Ihren Konsum“

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Freunde stoßen mit großen Biergläsern an

Ein Bierchen in Ehren kann niemand verwehren – oder lieber doch?

Kleinere Mengen Alkohol galten lange als unbedenklich, Weine gar als gesund. Ein Präventionsmediziner erklärt, das sei mittlerweile überholt.

Ulrich John zählt zu den renommiertesten Alkohol-Forschern des Landes. Bis 2019 war er Direktor des Instituts für Präventionsforschung und Sozialmedizin an der Universitätsmedizin Greifswald. Er sitzt im Kuratorium der „Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen“, die im Oktober 2023 eine neue Empfehlung zum Umgang mit Alkohol veröffentlicht hat. Ein Gespräch über Alkohol. 

Herr John, gibt es Alkoholkonsum ohne Risiko?

Ulrich John: Das wurde zumindest eine ganze Weile behauptet. Mehr noch: Es hieß sogar, bestimmte Formen von Alkohol in kleineren Mengen wären gesund. Das berühmte Glas Rotwein am Abend.

Was bedeutet denn kleinere Mengen?

Als risikoarm galten bei Frauen 12 Gramm Alkohol am Tag, bei Männern 24 Gramm. Das entspricht etwa einem achtel Liter Wein bei Frauen und einem halben Liter Bier bei Männern.

Das hört sich nach erstaunlich viel an.

Finden Sie? Ein großer Teil der Deutschen würde solche Mengen eher als wenig bezeichnen. Auch die Alkoholindustrie behauptet gern: Ein Gläschen am Tag schadet ja nicht.

Zurecht?

Nein, das ist ein Mythos. Ehrlicherweise einer, den wir Wissenschaftler selbst produziert haben.

Porträt des Forschers Ulrich John.

Ulrich John zählt zu den renommiertesten Alkohol-Forschern des Landes.

Wie konnte das passieren?

Sie müssen sich das so vorstellen: Zu Zeitpunkt Eins wird eine repräsentative Stichprobe aus der Bevölkerung befragt, wie viel Alkohol sie trinkt. Und darunter sind dann einige, die sagen: Ich trinke überhaupt keinen Alkohol. Andere sagen: Ich trinke wenig. Und wieder andere geben zu: Ich trinke viel. Und dann wird einige Jahre später untersucht, welche dieser Personen gestorben sind. Aus diesen Studien wissen wir, dass starker Alkoholkonsum das Sterberisiko erhöht. Was nicht überraschend ist. Weniger klar war hingegen, wie es sich mit denjenigen verhält, die wenig oder gar nicht trinken. Und diese früheren Studien schienen nun also zu belegen, dass Alkohol-Abstinente früher starben als Gering-Konsumenten. Das begründete man dann beispielsweise mit angeblich guten Inhaltsstoffen von Weinen.

Klingt doch erst einmal beruhigend.

Ja, aber es ist ein Trugschluss, der auf eine einzige Schwäche der früheren Forschung zurückgeführt werden kann: Es wurde nicht präzise genug gefragt, warum diese Menschen abstinent lebten. Unsere Arbeitsgruppe hat ab 1996 eine Studie zu Alkoholkonsum und Rauchen durchgeführt, mit zufällig ausgewählten Erwachsenen. 4000 Menschen haben wir dafür psychiatrisch untersucht und 20 Jahre später die Todesfälle analysiert. Ein Ergebnis war, dass 70 Prozent derer, die gar keinen Alkohol tranken, zuvor ein erhebliches Problem mit Alkohol, Drogen oder Tabakkonsum oder andere gesundheitlichen Probleme hatten. Diese Vergangenheit der Menschen wurde in früheren Studien nicht berücksichtigt, obwohl sie natürlich entscheidend ist für die Lebenserwartung.

Aber das sagt ja immer noch nichts darüber aus, ob ein Gläschen Wein am Abend jetzt schädlich ist oder nicht.

Auch da hat die Forschung in den vergangenen 20 Jahren viele Neuerungen gebracht. Früher hat man behauptet, die Auswirkungen von, sagen wir mal, weniger als einem Liter Bier in der Bevölkerung könne man gar nicht richtig messen. Unter anderem, weil diese Angaben als nicht verlässlich galten – viele spielen ihren Alkoholkonsum ja herunter. Aber die Methodik ist auch hier immer besser geworden. Und entsprechend eindeutig sind die Befunde.

Was besagen die?

Es gibt zwei Erkrankungsgruppen, die zwei Drittel unseres Todesgeschehens ausmachen: Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Fangen wir mit dem Krebs an: Wir wissen heute, dass auch geringe Mengen Alkohol bereits mit einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen verknüpft sind. Das betrifft sieben Krebsformen, darunter vor allem Erkrankungen der oberen Atemwege, Mundhöhle, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre. Und dann kommt noch Brustkrebs, Leberkrebs und Darmkrebs dazu. Gerade der Brustkrebs der Frau ist eine ganz wichtige Erkrankung, weil sie häufig auftritt und oft tödlich verläuft. Auch die Zahl der Frauen mit Lungenkrebs ist gestiegen, weil Frauen häufiger und mehr rauchen.

Ein anderes Thema.

Nicht ganz! Die Risikofaktoren Tabakrauchen und Alkoholkonsum sind sehr eng miteinander verknüpft. Wir wissen aus Laboruntersuchungen, dass Zigaretten Appetit auf Alkohol machen und umgekehrt. Und wir wissen aus dem klinischen Umfeld, dass unter den Menschen mit Alkoholproblem exorbitant viele Raucher sind.

Was schlechte Auswirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem hat.

Genau. Schon geringe Mengen Alkohol erhöhen das Risiko für eine Hypertonie, also für erhöhten Blutdruck. Das ist nichts Triviales, etwa 30 Prozent der Menschen in Deutschland haben Blutdruck-Probleme. Auch Herzrhythmusstörungen nehmen bei geringem Alkoholkonsum zu, besonders bei älteren Menschen.

Nun wird die hohe Lebenserwartung in Ländern wie Spanien und Italien immer wieder mit der mediterranen Ernährung begründet. Zu der gehört auch ein Glas Wein.

In der Tat ist diese Ernährung sehr gesund. Es gibt aber in keiner der Studien dazu einen Hinweis darauf, dass der Alkohol in irgendeiner Form zu den positiven Effekten beiträgt. Da spielen eher die Fettsäuren im Olivenöl und der hohe Anteil an Salat und Gemüse eine Rolle. Die spanische Ernährungsgesellschaft, die ja auch die mediterrane Ernährungsweise empfiehlt, sagt explizit, dass man auf Alkohol verzichten sollte.

Ist das also der Weg?

Ehrlich gesagt ja! Deswegen haben wir bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen Ende des vergangenen Jahres eine neue Empfehlung herausgegeben, weg von den erwähnten Mengen für Männer und Frauen. Wir raten jetzt: Egal, wie viel Sie trinken, reduzieren Sie erstens auf alle Fälle Ihren Konsum. Und wenn Sie zweitens das Optimum für Ihre Gesundheit erreichen wollen, trinken Sie keinen Alkohol.

Das hört sich vage an.

Da haben Sie recht. Aber wir wollen ja die gesamte Bevölkerung erreichen. Und bei Alkohol darf man erfahrungsgemäß nicht zu sehr stigmatisieren. Wir befinden uns in Deutschland in einem Hochkonsumland.

Alkohol ganz verteufeln wirkt auch etwas freudlos.

Ich verstehe, was Sie meinen. In einem demokratischen Land geht es ja auch darum, die Menschen mitzunehmen. Wir würden als Alkoholforscher deswegen auch keine Prohibition fordern. Aber die Steuern für Alkohol zu erhöhen, wäre ein richtiger Schritt. Den bekommen wir unter anderem aufgrund der starken Lobby-Aktivität der Alkohol-Industrie politisch nicht durchgesetzt. Ich frage mich oft: Warum gelingt es uns als Experten nicht, eine vergleichbare Lobby auf die Beine zu stellen? Wir haben es bislang nicht einmal hinbekommen, dass kein Alkohol mehr an Tankstellen verkauft wird. Dabei ist diese Verknüpfung Alkohol und Autofahren doch wirklich das Absurdeste, was es gibt. Und dann müssen sie ja auch noch den sozialen Gradienten berücksichtigen.

Wieso?

Je geringer der sozio-ökonomische Status ist, desto mehr wird getrunken. Das ist in der Gesundheitspolitik ein riesiges Problem, weil es so schwierig ist, diese Bevölkerungsgruppe zu erreichen. Wir brauchen eine bessere Versorgung für alle mit Präventionsleistungen gegen Alkohol-Missbrauch. Menschen reduzieren riskantes Verhalten, wenn Sie ausreichend über die Gefahren informiert sind.

Gefahren gibt es im Alltag viele: Abgase, Schadstoffe in industriell produzierte Nahrungsmittel, Plastikrückstände im Trinkwasser. Was wäre also beim Alkohol verhältnismäßig?

Wie gesagt: je weniger, desto besser. Aber davon sind wir weit entfernt, der durchschnittliche pro Kopf Konsum im Jahr liegt in Deutschland bei zehn Litern pro Person. Und dann müssen Sie ja noch die Menschen herausrechnen, die nichts oder nur sehr wenig trinken. Das heißt, ein Teil der Bevölkerung muss sehr hohe Mengen an Alkohol trinken. Das zeigt auch, wie groß das Problem ist. Und die Alkohol-Abhängigkeit macht dabei nur einen winzigen Bruchteil aller Erkrankungen aus, die wir auf Alkohol zurückführen können.

Dabei ist das genau die Frage, die sich viele stellen: Bin ich schon abhängig?

In den Medien wird dieses Narrativ gerne aufgegriffen, weil es so plakativ ist: Der Betrunkene, der durch die Straßen torkelt. Damit marginalisieren wir bestimmte Menschen. Es ist einfach, zu sagen: Mich betrifft das nicht, das sind die da am Rand der Gesellschaft, die sich zugrunde richten. Aber wenn sie die Menge der Erkrankungen nehmen, dann sieht das ganz anders aus. Die internationale Forschung geht inzwischen davon aus, dass mehr als 200 Erkrankungen durch Alkoholkonsum begünstigt werden. Und die Betroffenen fallen – anders als der Alkoholiker – im Alltag erst mal gar nicht auf.

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